Wieviel Abstand braucht der Mensch?

Gastbeitrag von Helmut Stoklossa

Eine seltsame Frage die jeder für sich anders beantworten wird. Eine Frage, die sich in verschiedene Lebenssituationen einfühlen kann und entsprechend aus verschiedenen Perspektiven anders beantwortet werden kann.

Der Abstand zum Beispiel zu unsympathischen Menschen wird sich von vornherein vergrößern im Gegensatz zum angenehmeren Teil der Mitmenschen mit dem man gerne zusammen ist. Corona hat uns gelehrt, Abstand zu halten, zur eigenen Sicherheit und zum Schutz unserer Mitmenschen.

Das eigene Urteilsvermögen zum Beispiel gewinnt an Gewicht, wenn man das politische Geschehen, zum Beispiel in Wahlkampfzeiten mit etwas Abstand anschaut. Erst aus der Entfernung hat man die Übersicht und kann unterscheiden zwischen gefällig plakativen politischen Aussagen, Versprechungen und echten ehrlichen Anliegen mit konkreten Absichtserklärungen.

Abstand nimmt sich auch jeder, wenn man Gefahr wittert. Instinktiv schützt sich der Mensch vor Gefahren, also vor Naturkatastrophen. Natürlich hat der Selbstschutz da Grenzen, wo die Natur übermächtig und überraschend zuschlägt, wie gerade erlebt im Westen Deutschlands. Dort hat die Natur dem Menschen die Grenzen aufgezeigt, da hilft nur noch menschliche Intelligenz, für ein nächstes Mal vorzusorgen, um wenigstens die Folgen zu mildern.

Abstand halten hat uns allen auch die Pandemie beigebracht. Wir haben lernen müssen, auf andere Menschen zu achten und uns selbst zu schützen durch Abstand, Masken, Test und Impfung. Nur wenige wollten das nicht einsehen, wollen unbedingt „querdenken“ und wollen abwarten so lange, bis sie selbst betroffen sind und unser aller Hilfe brauchen.

Viele fragen sich, wie groß der zeitliche Abstand noch ist bis zur Klimakatastrophe. Oder ist die schon längst bei uns angekommen? Weltweit brennen die Wälder schneller ab wie neue Bäume nachwachsen können.  Anschaulicher kann uns die Natur nicht verwarnen!

Vorsorge ist auch eine Notwendigkeit, Menschen vor den selbsterzeugten Gefahren des täglichen Lebens zu schützen. Wir nennen das Sicherheitsvorschriften. Sie schützen vor Gefahren, vor gefährlichen Anlagen und Produktionsprozessen, vor unerwarteten Unfällen z.B. in Gefahrstofflagern. Das jüngste Beispiel fand bei der Bayer AG in Leverkusen statt, die Explosion von Tanks im Freien mit explosiven Produktionsrückständen, die zur Vernichtung durch Verbrennung vorgesehen waren. Lange war ungewiss, ob bei dieser Art unkontrollierter Verbrennung Dioxin entstanden ist. Das hätte schlimme Folgen haben können, denn hier war aus unerklärlichen Gründen der Mindestabstand zur Besiedlung mit weniger als einem km unterschritten. Die schwarzen Wolken zogen übers Land, was sie für Niederschläge transportierten wusste niemand. Vor einigen Jahrzehnten kämpften die ersten Umweltschützer unter der Androhung mit Entlassung gegen die damals übliche Verklappung so mancher Produktionsrückstände, Dünnsäuren usw. in der Nordsee. Da wurde der Mindestabstand zur Nahrungskette der Menschen entscheidend unterschritten. Fachleute handelten nach dem sog. Verdünnungsprinzip was die Gefährlichkeit herabsetzen sollte. An dessen Stelle ist nun die Verbrennung als Alternative getreten. Wiederverwendung, Rückführung der Reststoffe sollte das umweltgerechte Prinzip sein.

Ich bin am Rande des Ruhrgebietes aufgewachsen, dem Land mit Kohleförderung, Eisen- und Stahlproduktion, Grundstoff- Chemieindustrie, mit Energieerzeugung und Produkten für das restliche Deutschland.

Können wir uns vorstellen, dass am Rande solcher Produktionsanlagen die Menschen angesiedelt wurden, eine Straßenbreite hinter den Hochöfen oder Thomasbirnen? Können wir uns vorstellen, dass eine Thomasbirne zur Erzeugung von Stahl alle halbe Stunde „durchgeblasen“ wurde, Gase und Verbrennungsreste des Eisenrohstoffes einfach in die Luft der bewohnten Umgebung entlassen wurden? Können wir uns vorstellen, dass Kinder 50 m neben der Kokerei aufwachsen mussten mit ihren Abgasen, Dreck, Ruß, der zentimeterdick auf den Dächern landete, damit das Land mit Kokskohle versorgt wurde und die Hochöfen Eisenerz schmelzen konnten? Können wir uns vorstellen, dass aus der Schwefelfabrik Wasserdampf mit Schwefelsäuretröpfchen entweicht und nebenan im Garten der Anwohner die Nylonstrümpfe auf der Wäscheleine Löcher bekamen? Auch da wurde bis zu Willy Brandts Zeiten der Abstand zu den Menschen sträflich vernachlässigt, dem Gewinnstreben der Großindustrie geopfert. Willy Brandt hat damals den Menschen den „blauen Himmel über dem Ruhrgebiet“ versprochen …. und, Wort gehalten. Alle mussten fortan Filteranlagen installieren und die Abwässer klären.

Können wir uns vorstellen, dass nicht nur in der ehemaligen DDR, Produktionsrückstände aus der gleichfalls in diesem Landstrich etablierten Chemieindustrie auf 100 m hohe Halden gekippt wurden, 100 m neben und hinter Wohnsiedlungen? Wieder wurde gewissenlos der Abstand missachtet. In dieser Wohnstraße steht Jahrzehnte danach, also heute, kein Haus, in dem es nicht mindestens einen Krebstoten gegeben hat. Beschwerden bei den nordrheinwestfälischen Behörden wurden verniedlicht und ignoriert. Die Menschen mussten sich selber helfen und herausfinden, ob Krebs und Deponie in einem kausalen Zusammenhang stehen, nach Jahrzehnten. Sie gründeten eine Bürgergemeinschaft, beauftragten und bezahlten ein unabhängiges Institut was herausfand, dass in der Deponie auch Dioxin vergraben war und durch Erosion an die Oberfläche kam und in die Gärten verweht werden konnte. Solche Zustände stehen im Verantwortungsbereich vom Kanzlerkandidaten der CDU, Armin Laschet, der Klimaziele propagiert, aber neue Braunkohleverstromung fördert.

Als 1986 die atomaren Brüter in Tschernobyl brannten, durchbrannten und explodierten war der zuständige damalige Landwirtschaftsminister in Baden- Württemberg, Herr Weiser, Mitglied der CDU, der Meinung, der Abstand zwischen Stuttgart und Tschernobyl sei mit 1500 km groß genug, als ginge uns das alles nichts an. Die Wolke kam, sie war unsichtbar, der Fallout lebensgefährlich für Mensch, Tier und Umwelt. Heute wissen wir mehr, aber ist der Abstand deswegen größer geworden? Die gefährlichen Wolken oder die kontaminierten Meere rund um Japan kann man nicht sehen, das macht sie um so gefährlicher für den Menschen. Abstand halten ist unmöglich, Selbstschutz ebenso, deshalb ist es richtig, dass die Ursachen weltweit beseitigt werden, diese selbstmörderische Technologie. Der Mindest- Sicherheitsabstand zu Atomanlagen sollte einen Radius von 50 km haben, das ist die absolut tödliche Distanz für den Menschen, die Anwohner. Den haben wir nirgendwo in Deutschland, grob fahrlässig. Deutschland hat den Anfang gemacht, Kanzlerin Angela Merkel hat endlich einmal richtig gehandelt.

Warum beschreibe ich alle diese Gefahren die Menschen lebensgefährlich werden können.

Das alles fällt mir immer ein, wenn ich an das Abstandsgebot von Windkraftanlagen zur Besiedlung denke. 

Um welche Gefahren handelt es sich eigentlich, dass wir 2 km Abstand fordern, wie verhältnismäßig stehen Gefahren und Maßnahmen zueinander? In den oben beschriebenen Fällen wurde den Menschen willkürlich Gefahren für Leib und Leben zugemutet, das sei also deren Lebensrisiko. Und wie hoch ist das Lebensrisiko beim Betrieb einer Windkraftanlage? 

Beim besten Willen, ich kann den Widerstand mancher Bürgerinitiativen gegen Windkraft, der saubersten Energie zu allem, was wir bisher hatten, nicht nachvollziehen. Da hat unsere Landesregierung bei Dienstantritt alle Weichen richtig gestellt und vor Ort blockiert man mit fadenscheinigen Argumenten die Umsetzung. So geschehen in unserer Nachbarschaft von Spaichingen. Es geht ums Landschaftsbild, Vogelschutz und Erhalt der Natur. Natürlich entwickelt sich die Landschaft, mit jeder Generation anders. Auf der einen Seite möchte man Idylle erhalten, gleich nebendran lassen wir das Absterben der Landwirtschaft zu, dulden oder fördern den Flächenfraß von Gewerbe, Industrie und Speditionen. Der innere Widerspruch könnte nicht deutlicher werden. Was ist uns wichtiger, das Landschaftsbild oder eine Klimawende zu der die Energiewende einen entscheidenden Anteil hat? Schaffen wir endlich den gesellschaftlichen Abstand, die heimliche Toleranz zu allem, was Menschen zur Klimakatastrophe beitragen.

Was gibt es noch für Gegenargumente gegen die Windmühlen, die gewiss nicht wir, sondern vor mehr als 100 Jahren unsere Vorfahren erfunden haben. Ich habe nichts gegen Bürgerinitiativen, gewiss nicht, zumal sie in vielen Fällen ein wichtiges Korrektiv sind und Verantwortung an der Basis ausüben. Ich habe nur etwas gegen herbeigeredete Argumente, die beim näheren Hinsehen mehr Absichten offenbaren als Sorge um die Menschheit oder Tierwelt. 

Ein Beispiel, was ich persönlich beisteuern kann. Auf der Nordseeinsel Spiekeroog steht ein gymnasiales Internat, seit Jahrzehnten, dort machte einst der Physiker und Raketenforscher Wernher von Braun sein Abitur. Das Haus hat eine autarke Stromversorgung mit einer Windkraftanlage alter Bauart, ein Schnelläufer. Aufgestellt zu einer Zeit, als der ganze Norden noch nicht vollgepflastert war mit Windrädern. Ich war mehrmals dort und habe noch nie einen toten Vogel darunter entdecken können. Und das, obwohl unmittelbar an der Grundstücksgrenze ein wichtiges Vogelschutzgebiet beginnt.

Wenn es um das zu bewahrende Landschaftsbild vor unserer Haustür geht, so will ich fragen, ist unsere Landschaft denn wertvoller und erhaltenswerter als die Landschaft in Norddeutschland? Windmühlen gehören nach Norddeutschland? Seien wir ehrlich, wir muten diesen norddeutschen Bewohnern das zu, was wir zu verhindern suchen? Habe ich das so richtig empfunden? Ist uns eigentlich klar, dass die geplanten neuen Stromtrassen nur deshalb notwendig werden, weil wir gerne diesen Egoismus pflegen? Eine dezentrale Stromversorgung ist gefordert, ohne diese immensen Leitungsverluste, ohne die Beeinträchtigungen der Landschaft durch Hochspannungskabel quer durch Deutschland, also alle möglichen Energieerzeugungsformen vor Ort, im besten Fall nah am Verbraucher. Müssten wir uns nicht eigentlich schämen für die fehlenden Windkraftanlagen in Baden-Württemberg wenn die „Fischköpfe“ zu uns in Urlaub kommen? Wie lange braucht die Einsicht im Ländle denn noch?

Die Geräuschentwicklung ist oft ein Verhinderungsargument. Es wird außer Acht gelassen, dass sich die Technik der letzten Jahrzehnte entscheidend verbessert hat. Viele alte, kleine Windräder werden heute durch ein einziges neues ersetzt. Die Leistung hat sich erhöht, die Höhe der Nabe ist mindestens doppelt so hoch und die Drehzahl entscheidend kleiner. Neue Anlagen haben keinen Generator alter Bauart mit Getriebe, um die 50 Hertz Frequenz zu erzeugen. Die Langsamläufer haben die Schnellläufer abgelöst und damit auch die immer aufgeführten Nachteile ad absurdum geführt. Nicht umsonst halten die Investoren die Wirtschaftlichkeit neuer Anlagen als oberstes Ziel im Auge, niemand würde investieren ohne Rentabilitätsaussicht. Darauf können sich gewiss auch Bürgerinitiativen verlassen.

Fazit zum Schluss: Im Falle der Windkraftanlagen muss das Abstandsgebot nicht zwingend vergrößert werden, hier geht es nicht um Gefahrenabwehr, aber um Klimaschutz und Klimaneutralität zum Wohle der Anwohner und aller Menschen. Deshalb sage ich als Grüner: „Windkraft – aber flotti“

Helmut Stoklossa

Spaichingen

7.8.2021